Herausforderungen gemeinsam meistern
Als ich in den 90ern Soziologie an der Universität Hamburg studierte, brachte uns Professor Herrmann Korte die Werke von Norbert Elias näher, mit dem er freundschaftlich verbunden war und an der Verbreitung dessen Werke er großen Anteil hatte. Besonders im Gedächtnis ist mir dabei Elias‘ Buch „Etablierte und Außenseiter“ geblieben.
Im Rahmen einer empirischen Studie untersucht Elias darin das Verhältnis zwischen einer alteingesessenen, „sozial älteren“ Einwohnergruppe in einer englischen Gemeinde sowie einer zweiten Gruppe von Menschen, die man erst später in diese Gemeinde umsiedelte.
Obgleich zwischen beiden Gruppen nicht einmal ethnischen Unterschiede bestanden, konnte Elias beobachten, wie die Etablierten sich noch enger zusammenschlossen, die Neuankömmlinge unterdrückten und – bar jeder Vernunft – stigmatisierten.
Dieses Buch hat mir damals sehr gut vor Augen geführt, wie kompromisslos Menschengruppen mitunter reagieren können, wenn sie plötzlich eine neue Bevölkerungsgruppe „vor die Nase gesetzt“ bekommen.
Als Folge des 2. Weltkrieges musste meine Großmutter als sogenannte „Reichsdeutsche“ ihre westpreußische Heimat Rheinsberg (heute Polen) fliehen. Als Neuankömmling in Berlin war sie darauf angewiesen, Menschen zu finden, die ihr dabei halfen, Unterkunft, Arbeit und die Chance auf einen Neustart in der Großstadt zu finden. Dies war nicht einfach; die durch Flucht und Verfolgung ausgelösten und meist unterdrückten Traumata und die zunächst erfahrenen Widerstände in der neuen Heimat prägen noch heute die Biographien vieler deutschen Familien mit einem solchen „Migrationshintergrund“. Dankbar kann sein, wer erst gar nicht in eine solche Situation gerät und, falls doch, dann auf offene Arme und Herzen trifft.
Wenn in diesen Tagen aufgrund der angespannten weltpolitischen Lage Menschen sich dazu entschließen (müssen), ihre Heimat zu verlassen und wir auf der politischen Ebene vor der Herausforderung stehen, diese unterbringen zu müssen, denke ich auch an das Leid, welches meine Großmutter erdulden mussten und wie gut wir „Etablierten“ es dagegen haben.
Zum Regionalbereich, für den ich zuständig bin, gehört der Stadtteil Farmsen, in dem sich eine Unterkunft für 346 Flüchtlinge und Obdachlosen befindet. Nun sollen in Farmen weitere 400 Menschen untergebracht werden. Diese Entscheidung wurde getroffen, weil hier die entsprechende Räume auf dem ehemaligen Gelände des Berufsförderungswerks zur Verfügung stehen. Sie werden dringend benötigt, denn wöchentlich kommen rund 150 neue Flüchtlinge nach Hamburg, kurzfristige Optionen für deren Unterbringung sind kaum vorhanden und der Winter steht vor der Tür. Bis Ende 2015 müssen ca. 5.700 neue Plätze in Hamburg geschaffen werden.
Auf der morgigen Sitzung des Regionalausschusses Bramfeld-Steilshoop-Farmsen-Berne wird Staatsrat der Sozialbehörde, Jan Pörksen, erläutern, welche Gründe zu dieser Entscheidung geführt haben.
Es ist eine Entscheidung „über die Köpfe der Bürger hinweg“, wie Kritiker meinen. Kritisiert wird diese Entscheidung zudem auch auch deswegen, weil zuvor übereinstimmend und über Parteigrenzen hinweg die 346 Flüchtlinge als das absolute Maximum und für den Stadtteil gerade noch Erträgliche angesehen wurden. Vielmehr sollte versucht werden, Flüchtlinge in Zukunft dezentraler und in kleineren Einheiten unterzubringen (was übrigens auch schon geschieht durch Unterkünfte im Volksdorfer Grenzweg/Bergstedt, am Gymnasium Marienthal sowie in der Straße Bahngärten in Marienthal). Darüber hinaus wird auf Druck der Stadt Hamburg das Bauplanrecht so verändert, dass es in Zukunft leichter sein wird, Flächen in den äußeren Stadtteilen Hamburgs, wie z.B. in den Walddörfern, für die Flüchtlingsunterbringung zu nutzen..
Jedoch: was wäre gewesen, hätte man nicht „über die Köpfe der Bürger hinweg“ entschieden, sondern sie gefragt, ob sie bereit gewesen wären, weitere 400 Flüchtlinge in ihrer Nachbarschaft aufzunehmen und sie darüber abstimmen zu lassen? Hätten wir dann jetzt eine Unterkunft für diese Menschen?
Oder was passiert, wenn man eine Einrichtung dezentralisiert und statt nur einer Einrichtung mit 400 Menschen zehn für je 40 Menschen errichtet? Richten die Bürger sich dann an Politik und Verwaltung, um sich bei ihnen für die weise Entscheidung zu bedanken? Wohl kaum. Ich vermute, auch dann würden viele Alteingesessene genügend Gründe finden, warum eine Unterkunft ausgerechnet vor ihrer Haustür nicht in Frage kommt. Es gibt genug Beispiele aus unserem Land, wo man genau dies nachvollziehen kann.
In diesem Konflikt steht auf der einen Seite ein Senat, der sich unter der enormen Flut von Flüchtlingen zum Handeln gezwungen sieht und unpopuläre Tatsachen schaffen muss; auf der anderen Seite Bürger, die ihr Quartier an der Grenze ihrer Aufnahmekapazität sehen. Dazwischen befinden sich Kommunalpolitiker in bezirklicher Regierungsverantwortung, die diese Entscheidungen so gut wie möglich zu kommunizieren versuchen; leider aber auch einige der Opposition, die aus diesem Konfliktfeld Kapital zu schlagen versuchen.
Google bringt es bei den Suchbegriffen „Bürger gegen Asylbewerber“ auf stolze 616.000 Ergebnisse. Vieles, was sich dort findet, lässt einem die Nackenhaare sträuben. Die Diskussion in Farmen war bisher – bis auf wenige Ausnahmen – sachlich und mit den am „Runden Tisch“ beteiligten auch konstruktiv; ging es hier doch auch darum, die lokalen Akteure und Einrichtungen auch mit der Frage zu beschäftigen, wie man der Unterkunft helfen und Integration ermöglichen kann und – ganz wichtig – für einen Informationsaustausch zu sorgen. Meine Fraktion und unser grüner Koalitionspartner werden daran arbeiten, dass dies auch bei zukünftigen Herausforderungen gelingt.
Menschen, die nicht als Nazis bezeichnet werden wollen, sich in ihrem Ton und Rhetorik aber kaum von diesen unterscheiden, Politik sowie inzwischen auch der Presse „Lügen“ und „Hetze“ vorwerfen und diktatorische Verhältnisse in Deutschland unterstellen, haben unter dem Motto „Schluss mit der politischen Willkür“ für Donnerstag eine Demonstration vom Parkplatz der Volkshochschule bis zum SPD-Abgeordnetenbüro angemeldet, um gegen die Unterbringung weiterer Asylbewerbern zu demonstrieren. Auf einer eigens dafür eingerichteten Facebook-Seite werden auf einem unterirdischen Niveau Menschen wüst beschimpft und mit entsprechenden Aufforderungen auch dafür gesorgt, dass ein dem Thema angemessenes Diskussionsniveau nicht erreicht wird („hier kann JEDER frei nach schnauze reden,seine Gedanken Ideen und Ansichten kund tun….so wie es ihn gefällt [sic]“).
Derweil organisieren diejenigen, die immer noch für ein offenes und liberales Hamburg und zur Verantwortung der Stadt bei der Flüchtlingspolitik stehen, am Donnerstag, 6. November um 16.30 Uhr Gegenkundgebungen an der Kreuzung Rahlstedter Weg/Berner Heerweg/August-Krogmann-Straße sowie an der August-Krogmann-Straße 98.
Die öffentliche Sitzung des Regionalausschusses findet am Donnerstag, 6. November um 18 Uhr in der Aula des Gymnasiums Farmsen, Schwebenhöhe 50, 22159 Hamburg, statt.
Ich ziehe meinen Hut vor all denjenigen, die sich für die Flüchtlinge engagieren und z.B. durch Kleiderspenden, Hausaufgabenhilfe und die Organisation von Freizeitangeboten dazu beitragen, Menschen in Not zu helfen und als „Etablierte“ zu den „Außenseitern“ stehen.
In diesen Tagen denke ich an die – am Ende – positiv verlaufene Flüchtlingsgeschichte meiner verstorbenen Großmutter, ohne die ich heute nicht auf der Welt wäre und daran, wie stolz ich auf die Stadt Hamburg bin, in der die meisten Bürgerinnen und Bürger immer noch verstehen, dass Frieden und Menschenrechte, die für uns heute selbstverständlich sind, in vielen Ländern der Erde erst noch erkämpft werden müssen.
Die Hamburgische Bürgerschaft unterstützt das freiwillige Engagement für Flüchtlinge mit 200.000 Euro. Wer sich auch engagieren möchte, findet weitere Informationen im folgenden Dokument:
Gemeinsam für Flüchtlinge – Engagement aller ist gefordert (PDF), 326 KB